Schule und Integration

Die Berliner Rütli-Hauptschule ist nun als Paradebeispiel für gescheiterte integrative Schulpolitik in aller Munde. Natürlich läuft die Diskussion im Rahmen dessen ab, was man in Deutschland unter den Stichworten “Migration und Integration” versteht. Tanjev Schultz kommentiert auf süddeutsche.de:

Politiker reagieren auf die Berliner Schulprobleme wie gehabt: Die einen sind hysterisch, die anderen hilflos. Dabei wäre eine Diskussion über die Struktur und die Kultur des Schulsystems notwendiger denn je. (…) Die einfallslosen Reaktionen vieler Politiker folgen dabei dem gleichen Muster des Unsichtbarmachens: Wer aufmuckt, soll einfach verschwinden. Die einzige Pädagogik, die Politiker wie Edmund Stoiber und Wolfgang Bosbach beherrschen, ist schwarze Pädagogik. Drohen, verbieten, wegsperren, rauswerfen. Der Kampf um Anerkennung, den türkische und arabische Jugendliche führen, wird reduziert auf Gewalt und Gegengewalt. (…) Wichtiger noch als die Struktur ist die Schulkultur. (…) Eine bessere Förderung der Kinder zu organisieren, ist eine nationale Aufgabe.

Deshalb möchte ich Lesern von woweezowee, die sich dem Thema etwas intensiver widmen wollen und dabei auch nicht scheuen, den Blick über den Tellerand hinaus zu wagen, ein umfangreiches und ausgesprochen interessantes Buch ans Herz legen:

Staat – Schule – Ethnizität von Werner Schiffauer, Gerd Baumann, Riva Kastoryano und anderen. Aus der Amazon-Kurzbeschreibung:

“Am Beispiel von Jugendlichen aus türkischen Einwandererfamilien wurde in diesem Buch untersucht, wie der Prozess der politischen Enkulturation in Frankreich, England, den Niederlanden und in Deutschland abläuft. Dazu wurden ethnologische Feldforschungen an Schulen in Berlin, Rotterdam, London und Paris durchgeführt. Dabei stand die Frage im Vordergrund, wie der sozialisatorische Prozess aussieht, durch den ein Individuum die geistigen Vorstellungen und Verhaltensmuster erlangt, die erforderlich sind, um als Mitglied einer politschen Kultur mitzuwirken.”

Auszüge einer Rezension der ZEIT finden sich bei den Perlentauchern.

Diese vergleichende Studie ist sehr umfassend. Bei Örtlichkeiten und Lehrmaterial angefangen, über eine Analyse des Umgangs mit Themen wie Religion, Ordnung, Gerechtigkeit, Autorität und einer Analyse der unterschiedlchen Auffassungen von kultureller Identität hin zu genauerer Betrachtung des Unterrichts und vielen O-Tönen der Informanten aus dem Lehrer- und Schülerkreis, ergeben sich sehr genaue Bilder der jeweiligen Schulsysteme, der Schulkultur und den jeweils verfolgten Ansätzen zur Integration.

In keinem der Länder hat man bisher den goldenen Weg gefunden. Was beabsichtigt wird durch die Curricula und wie es letztendlich umgesetzt und von Seiten der Schüler aufgenommen wird, das ist schon teilweise wirklich erstaunlich, mehrmals paradox – ein Schmunzeln kann sich der Leser manchmal nicht verkneifen, auch wenn das Thema sehr ernst angegangen wird.

Doch ein Fall sticht heraus: Während in den Niederlanden, GB und Frankreich wenigstens klar definierte und vorgegebene Konzepte verfolgt werden, zeichnet sich die deutsche Schule gnadenlos durch ein Fehlen jedes übergreifenden Konzeptes aus (nein, sowas gilt nicht). Es bleibt in den Händen der einzelnen Lehrerkollegien, Ziele zu definieren und Wege und Mittel hierzu zu finden.

So heisst es denn auch im fazitartigen Epilog (das folgende lange Zitat kann das ausführlichere Lesen im Buch nicht ersetzen – insbesondere wenn man der Logik der Argumentation wirklich klar folgen will; das geht nur mit der großen Vielzahl an Beispielen im Hinterkopf, die diese Studie liefert.):

In der politischen Kultur der BRD tritt Neulingen ein ausgesprochenes Misstrauen gegenüber, das der persönlichen demokratischen Eignung und Wahrhaftigkeit gilt. Klar aus der historischen Katastrophe der Weimarer Republik abgeleitet, der ‘Demokratie mit zu wenig Demokraten’, ist das Vertrauen in die bloßen Institutionen des demokratischen Staates nachhaltig erschüttert und kommt innere Überzeugung als weiteres Kriterium für die Zuerkennung von Partizipationsrechten ins Spiel. Diese grundsätzliche Skepsis bei allen Angelegenheiten der ‘Verfassungstreue’ richtet sich auf die Verinnerlichung demokratischer Prinzipien als positiv verstandener Normenkontrolle durch das Gewissen der einzelnen Bürger. Auf Immigranten, deren Loyalität besonderen Zweifeln ausgesetzt ist, wirkt diese Konzeption der ‘wehrhaften Demokratie’ aber praktisch als Stolperstein, der Exklusionseffekte begünstigt.

Trotz der programmatischen Relevanz von individuellem Gewissen und innerer Überzeugung greift in der Praxis ein paternalistisches System mit Expertenhoheit, das Unterwerfung unter deren Evaluation fordert, ohne die Standards klar zu vermitteln. Die Undurchsichtigkeit der Erwartungen, die konstanten Zweifel an der Tragfähigkeit der demokratischen Grundhaltungen und die besonderen Schwierigkeiten, Einwanderer überhaupt in eine Nation aufzunehmen, die als Werte- und Schicksalsgemeinschaft vorgestellt wird (und die darüber hinaus erst kürzlich das Prinzip der Abstammungsgemeinschaft relativiert hat), hat ein Vakuum der Sprachlosigkeiten produziert, in dem die eingewanderten Bevölkerungsgruppen sich als negativ definiertes Kollektiv der ‘Nicht-Deutschen’ wiederfinden: Worin ihr tatsächlicher Beitrag und auch ihr gesellschaftliches Potential besteht, bleibt weitgehend unausgesprochen.

Auf die Nachkommen der Immigranten hat dieses (Ver-)Schweigen sich nachhaltig ausgewirkt. Die Jugendlichen an der Berliner Schule [nicht die Rütli, Anm.: woweezowee] sahen sich nicht als Repräsentanten von Herkunftskulturen, deren einzelne Besonderheiten und Probleme sie stärker berücksichtigt sehen wollten; statt dessen verorteten sie sich in größeren Kollektiven: in der umfassenden Gruppe der ‘Ausländer’, der pauschalen Lage des Arbeitsmarktes oder – bei der Frage nach ungerechten Zuständen und Visionen einer besseren Zukunft – sogar im Rahmen der Weltwirtschaft. Angesichts der limitierenden Bedingungen des deutschen Diskursfeldes scheint es schwierig, den Anspruch auf Zugehörigkeit offensiv mit Bezug auf die Situation in Deutschland zu formulieren.

Man müsse wohl einen neuen Staat gründen, um all den hybriden Identitäten derjenigen, die ‘deutsch-halb-halb’ seien, Raum zu geben, überlegte eine Schülerin einmal und wies damit exakt auf das Problem nicht existenter Integrationskonzepte hin; zugleich tat sie dies mit dem bezeichnenden Misstrauen, ob die Deutschen sich wohl je ändern könnten, das ihr in Berlin beigebracht worden war.

Wer immer die Rütli-Schule jetzt als Horrorbeispiel schlechthin aufführt (und im schlimmsten Fall alles auf die Schüler und ihre “Kultur und Tradition” schieben will), sollte mal einen Schritt zurücktreten und diese Studie zur Hand nehmen. Sie zeigt deutlich, dass die Fehler auf allen Seiten gemacht wurden und werden; gleichzetig zeigt sich durch die Beispiele der anderen Länder auch auf, welche Konzepte dort angewandt werden und wie diese wirken. Die politisch Verantwortlichen und auch der einzelne Lehrer oder Verbände könnten sich ja mal die Mühe machen, die besten Ansätze herauszuziehen und ein wirkliches Konzept für Schule und Integration in Deutschalnd auf die Beine zu stellen. Allein – mir fehlt der Glaube. Pauschales Holterdipolter ist eben doch um ein vielfaches einfacher, und der Sündenbock scheint mir im Falle der Rütli-Schule auch schon längst gefunden zu sein. Dabei ist alles nicht neu und viel wurde bereits dazu publiziert. Nehmen wir die immer wieder thematisierte Jugendgewalt: Bereits 1996 erschien die Ethnographie einer Jugendbande “Turkish Power Boys” von Hermann Tertilt.

  • Ethnologie in den Medien / Presseschau (neu) 3. April 2006 at 1:33 pm

    Schule, Integration und Kosmopolitismus…

    woweezowee kommentiert das Thema Schule und Integration. Die Berliner Rütli-Hauptschule ist nun als Paradebeispiel für gescheiterte integrative Schulpolitik in aller Munde, schreibt er. Der Kampf um Anerkennung, den türkische und ar…

  • woweezowee 3. April 2006 at 3:19 pm

    1. Wer nicht Deutsch kann, wird nicht eingeschult. 2. Wer an der Schule randaliert, fliegt aus der Klassengemeinschaft. 3. Wer sich dauerhaft nicht integriert, muß Deutschland wieder verlassen.

    sagt Ede Stoiber gegenüber BILD. Ich kann diese beeindruckenden Lösungen nicht mehr ertragen.

  • Too Much Cookies Network » Berlin Neukölln - Ecke Rütli-Schule bei den Ausländern 9. April 2006 at 1:48 pm

    […] Wer gedacht hat, dass die ausgewogenen Artikel1 und Kommentare zur Art der Auseinandersetzung um den Hilferuf der Berliner Rtli-Schule den reisserischen Assimilations- und Deportationsforderungen von Unionspolitikern den Wind aus den Segeln nehmen wird, der hat sich kräftig geirrt. Die einzige Möglichkeit für Politiker einem dringenden Thema aus dem Weg zu gehen, besteht darin, abzulenken und anzustacheln. Um das zu tun, müssen immer ein Sündenbock gefunden werden. Für Unionspolitiker sind es die Ausländer, die sich nicht integrieren wollen, die kein deutsch sprechen und die gewalttätig veranlagt sind. […]