Divergente Blogosphäre

Divergenz (f.) bezeichnet allgemein die Auseinanderentwicklung zweier Objekte (auch: Objekten [wz]) oder Prozesse, ausgehend von einem Ursprung und stellt damit das Gegenteil der Konvergenz dar.

Die Edelman-Debatte spült sie mal wieder etwas mehr an die Oberfläche: Die Meta-Debatte über das Bloggen, oder wie ich es im vorangegangen Eintrag genannt habe, die Frage nach der Blogkultur.

Die Ethnologie versteht Kultur in allen ihren Facetten als einen Prozeß — nicht als ein feststehendes, unabänderliches Faktum. Dies ist auch mein persönlicher Ansatz bei meiner Weblogforschung. Als follow-up zu meiner Magisterarbeit, in der ich Weblogs mehr oder weniger in einfacher Art und Weise erklärt, in größeren Kontext gestellt, für den Einsatz im Bereich der Medienethnologie plädiert und den damaligen Forschungsstand festgehalten habe, soll im kommenden Jahr meine aktuelle Arbeit veröffentlicht werden. Diese trägt derzeit den Arbeitstitel: “Weblog-Divergenzen: zwischen Corporate Blogs, Informationsmanagement und den neuen Playern im globalen Medienmix.”

Im Zusammenhang mit der angeführten Diskussion um die Crap-100 habe ich jetzt nochmal über einen Text gelesen, den ich bei der ersten Lektüre vielleicht etwas unterschätzt hatte: “Zugriff verweigert” von Geert Lovink, eine gekürzte Zusammenfassung der Einleitung seines Buches “Zero Comments”, das 2007 erscheinen soll. Einen anderen Artikel von Lovink hatte ich unter der Überschrift Blogger als Netzzyniker auf der Suche nach Wahrheit auf diesem Blog bereits erwähnt; berechtigte Kritik an seinem Text kam u.a. von Sylvia Egger.

“Zugriff verweigert” indes regte auf Spreeblick bereits vor einigen Wochen eine lange Diskussion über die Web2.0-Ökonomie aus. Als zentrale These von Lovinks Text zog Johnny heraus:

Der “Segen” von Web 2.0, Social Networks, Medienumwälzung, “Graswurzel”-Dies und Das… alles Blödsinn. Denn solange mit der Veränderung von Produktionsmethoden und -möglichkeiten nicht auch neue ökonomische Modelle einhergehen, solange wird sich gar nichts ändern. Das Geld nämlich, das nunmal, like it or not, einen erheblichen Einfluss auf unser Leben im Kapitalismus hat, wird weiterhin dort verdient, wo es schon immer verdient wurde: Bei den Aggregatoren der Inhalte, nicht bei den Produzenten.

Mir sind nun bei der erneuten Lektüre noch 2 andere Stellen ins Auge gesprungen. Zur Edelman-Debatte passt die folgende ganz gut:

Anstatt die Qualität der Produktion und die Kultur des Schreibens, Tagebuchführens und der Reflexion ins Zentrum zu stellen, sind Blogs in einen gnadenlosen Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit geraten, die an der Zahl der Links und »Freunde« gemessen wird. Die Blog-Software hat Millionen Nutzern weltweit eine einfach zu bedienende Publikationsmöglichkeit an die Hand gegeben und so die »Vermassung« des Internet gefördert. Doch schon 2005 wurde die Blogsphäre von einer maßlosen Überhitzung erfasst. Die nächste Welle des Netz-Chauvinismus rollte an. Die Blogs verloren ihren locker-hedonistischen Zug und die ersten begannen, sich nach etwas anderem umzusehen. Der sarkastische Unterton vieler Postings verschwand und machte einer glatten Selbstvermarktung Platz, die gemeinsame Bestimmung von Nachrichtenthemen, wie während der Wahlkampagne von Howard Dean 2003, wurde von einem prekären Blogging nach dem Motto »How To Make Money With Your Blog« abgelöst.

Man kommt nach den Ereignissen dieser Woche kaum umhin, dieser Einschätzung zuzustimmen. Die andere Stelle, die mich eher in Bezug auf meine eigenen aktuellen Fragestellungen angesprochen hat, lautet:

Zehn Jahre nachdem die Internetkultur populär geworden ist, wird sie von widersprüchlichen Kräften derart auseinandergerissen, dass man nicht mehr von allgemeinen Trends sprechen kann, sei es zum Guten oder zum Schlechten. Denn während permanente Veränderung herrscht und strikte Kontrollregime eingeführt wurden, geben die monatlich zig Millionen neuen Nutzer dem Medium immer wieder überraschende Wendungen, indem sie sich mit Vergnügen bestimmte existierende Anwendungen und Dienste aneignen, wie es kein Marktbeobachter jemals hätte ahnen können.

Diese entgegensätzlich ziehenden Kräfte versuche ich — auf Weblogs bezogen — mit dem Begriff “Divergenzen” zu fassen. Lovink zitiert die Vorstellung, dass es im wesentlichen 2 Zugrichtungen gibt: Eine hin zu totaler Offenheit (Daten, Systeme und die User selbst betreffend) und die andere zu einer neuen Art von Geschlossenheit.

Lovink liest sich durchaus kompliziert und wie die oben verlinkte Kritik zeigt, geht er gelegentlich von falschen Grundannahmen aus. Dennoch steckt in seinen Texten über Weblogs doch auch immer ein “mehr” an Reflexion über Blogs, als sich in anderen Artikeln oder Essays finden lässt. Ich lese bestimmt nochmal darüber bzw. warte gespannt auf das ganze Buch.

  • Jochen 17. Oktober 2006 at 7:43 am

    “Die Blogs verloren ihren locker-hedonistischen Zug und die ersten begannen, sich nach etwas anderem umzusehen. Der sarkastische Unterton vieler Postings verschwand und machte einer glatten Selbstvermarktung Platz”

    Dem kann ich nur zustimmen, weil ich das auch an mir selbst bemerke. Irgendwo hab ich das mal den “Terror des Blogcounters” genannt. Man verbringt viel zu viel Zeit, den Hits zu folgen und irgendwann bestimmt das sogar die Themenauswahl. Was in solchen Fällen dann bei mir rauskam, war oft verkrampft und unästhetisch geschrieben. Ein völlig falscher Ansatz, denn seit ich wieder “konzeptlos” über das blogge, was mich einfach interessiert oder was einfach raus muss, klappt’s auch wieder mit den Lesern.

  • woweezowee 17. Oktober 2006 at 3:50 pm

    “Terror des Blogcounters” klingt gut. Zwar nicht direkt nach einer Überschrift in einer wissenschaftlichen Arbeit, aber nun … wenn du das unter Creative Commons stellst 😀

  • Jochen 17. Oktober 2006 at 9:09 pm

    Ja klar, bei Problemen mit der Begrifflichkeit gibt’s übrigens Support für 2€:)

  • woweezowee 17. Oktober 2006 at 9:36 pm

    Klingt nach einem fairen Deal! 😉